
In memoriam Gert Schramm (1928 – 2016) –
Afrodeutscher NS-Zeitzeuge ist verstorben —
Voller Trauer müssen wir Abschied nehmen von einem lieben Freund, Gert Schramm, dem einzigen überlebenden afrodeutschen Insassen des KZ Buchenwald. Er starb nach längerer Krankheit am 18.April 2016 im Alter von 87 Jahren. Er wird am 30. April in Eberswalde beigesetzt. Wir verlieren einen geschätzten Humanisten.
Biographie
Gert Schramm (* 28. November 1928 in Erfurt, † 18. April 2016 in Eberswalde) war ein Zeitzeug des Nationalsozialismus. Er war der jüngste afrodeutsche Häftling. Sein Vater Jack Bransken, ein afroamerikanischer Vertragsingenieur, arbeitete bei einer US-Stahlbaufirma in Erfurt, um dort Eisenbahnbrücken zu bauen. Bransken verliebt sich in die Tochter seines Herrenschneiders, Marianne Schramm. Aus der Beziehung wurde im November 1928 das Kind der Liebe, das Baby Gert, geboren. Bransken konnte aber nicht bei seiner kleinen Familie bleiben und musste zurück in die USA, weil sein Arbeitsvertrag ausgelaufen war. 1941, als Gerts Vater wiederkam, um seine Traumfrau zu heiraten, wird er aufgrund der politischen Lage inhaftiert und nach Auschwitz deportiert. Seine Spuren verlieren sich auf dem Weg nach der Deportation. Er gilt als verschollen. Ist er unterwegs oder im KZ Auschwitz gestorben? Keiner weiß es.
Der 150-prozentige Nazi-Lehrer
Seine Mutter wird dienstverpflichtet und muss jede Woche bei der Gestapo vorstellig sein. Gert wächst heran und wird von seinen Großeltern mütterlicherseits liebevoll umsorgt. 1936 wird er in Witterda eingeschult und blieb dort bis zu seiner Schulabmeldung 1941. Durch die Machenschaften des Lehrers Kramer sah sich seine Großmutter gezwungen, ihn später in die Obhut seiner Mutter zu geben und ihn nach Langensalza zu schicken. Bisher lebte er als Schüler in der Geborgenheit seiner Großeltern, aber der NSDAP-Hauptlehrer Kramer, der „hundertfünfzigprozentige Nazi », sieht das anders. Der brutale Lehrer trägt damals Uniform im Unterricht, er ist stolzes Mitglied der NSDAP.
Für den Nazi-Lehrer ist Gert ein Nichtarier; schlimmer noch: das Ergebnis von Rassenschande, die die Nazis in ihren Nürnberger Blutgesetzen erfinden und verbieten. Die Anwesenheit von Gert ist ihm ein Dorn im Auge. Er malträtiert und prügelt ihn unentwegt, jedes Mal, ob er seine Hausaufgabe macht oder nicht. So wundert es nicht, dass Gert die Schule schwänzt, um somit den regelmäßigen Schlägen des gewalttätigen Lehrers zu entkommen. Der Nazi-Lehrer betrachtet seine Anwesenheit als Rassenschande und zögert nicht, seitenweise Anträge zu schreiben, um Gert in einem Heim unterzubringen: „Mein persönlicher Standpunkt bezüglich des Gert Schramm geht jedoch dahin, daß wir allzu großen Wert auf die geistige Erziehung des Jungen gar nicht zu legen brauchen. Er ist ein Negerbastard, und muß ja einmal doch aus der deutschen Volksgemeinschaft ausgeschieden werden„, meint Kramer.
Heimbringung und Zwangssterilisation?
Mit Beharrlichkeit schreibt Kramer Briefe und erwähnt sogar eine Heimunterbringung. Gert stellte seiner Meinung nach eine «rassische Gefahr» für seine Mitschülerinnen dar, denn die Klassen sind gemischt. Buben und Mädchen teilen die gleichen Schulbänke. Nach dem Wunsch des Lehrers ist Gert „aus dem Orte zu entfernen und so die Schuljugend in Witterda[m] einem schädlichen Einfluß zu entziehen.„
Um zu vermeiden, dass Gert mit Anfang der Pubertät eine Freundschaft mit einer Mitschülerin schließen könnte, wurde sogar seine Sterilisation amtlich in Erwägung gezogen: „Das Staatliche Gesundheitsamt des Kreises Weißensee in Erfurt hat von dieser Sache auch Kenntnis erhalten, da vielleicht Sterilisation in Frage käme.“
Seine Heimunterbringung bringt auch Problemen mit sich, denn die einzige Heimanstalt für Nichtarier, die in Frage käme, ist das katholische Kinderheim Sankt Josefpflege Mulfingen, eine Sammelstelle für Sinti-Kinder aus Württemberg. Dieses Heim verweigert ihm eine Aufnahme, was auch sein Glück ist. Denn die vierzig Zöglinge wurden alle in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.
Nach Abschluss der Volksschule arbeitete Gert Schramm als Hilfsarbeiter in einer Autowerkstatt. Eine Lehrausbildung wurde ihm als „Mischling ersten Grades“ aufgrund der Nürnberger Rassengesetze verweigert. Mit 14 Jahren wurde er aufgrund der Rassengesetze von der Gestapo nach dem Blutschutzgesetz in „Schutzhaft“ genommen. Er wird während der Arbeitszeit festgenommen und in verschiedenen Gestapogefängnissen inhaftiert. Monatelang erfährt er nicht über den Grund seiner Inhaftierung. „Der Morgen des 6.Mai 1943 versprach einen sonnigen, warmen Frühlingstags[..].Ohne irgendeine Erklärung wurde ich mitgenommen, als wäre ich ein Verbrechen“, erklärte Gert später.
Er ist zu jung, um zu verstehen, dass die Rassengesetze für alle Menschen, die nicht als Arier gelten, angewandt werden. Eigentlich fühlte er sich nicht anders als alle anderen Kinder im Dorf Witterda. Die Gestapo nimmt ihn mit und sperrt ihn ohne Essen und Trinken ein. Er wird von einem Gefängnis zum anderen Gefängnis überstellt: Langensalza, Erfurt, wo er zwei Monate lang in Einzelhaft verbringen muss, dann Weimar und Buchenwald.

Buchenwald, die Hölle
Am 20.Juli 1944 wird Gert in einem Viehwaggon mit circa 50 anderen Männern nach Buchenwald deportiert. Im Konzentrationslager erhielt Gert die Nummer 49489 und wird fortan so gerufen. Diese Nummer wurde ihm von den Nazis eingebrannt, um ihn als „deutschen politischen Häftling, Neger-Mischlings 1. Grades“ zu identifizieren. Auf seinem linken Arm ist sie noch zusehen, die er heute mit seiner Armbanduhr versteckt, sowie ein Triangel, das ihn als politischen Häftling bezeichnet.“Irgendeine Macht ist in mein Leben eingebrochen und hatte mich, einen Vierzehnjährigen, schlagartig und willkürlich aus allem herausgerissen. Dass mir durch die Rassengesetze seit langem Gefahr drohte, hatte ich nicht geahnt„, schrieb er.
Gert wird dort von SS-Offizieren misshandelt, verspottet und wie folgt begrüßt: „Hoch mit dir, du Missgeburt“ , „Wen haben wir denn da?“ , „Hätte ich nicht gedacht, dass wir so was bei uns mal sehen kriegen„, „Hat wohl einen standesgemäßen Empfang bekommen, der kleine Bastard„. Gert muss dann in einem Steinbruch hart arbeiten und täglich mit ansehen, wie zehn bis fünfzehn Mithäftlinge vor seinen Augen sterben. Er ist physisch am Ende. Schramm verdankt es der Solidarität der inhaftierten Kommunisten, die versuchten, ihm das Lagerleben erträglicher zu machen. Sie halfen auch mit, dass er die Gewalttätigkeit der SS doch überlebte. Beim Zählappel verstecken ihn die Häftlinge in die Mitte, damit er nicht der Brutalität der SS ausgesetzt wird.
Die Befreiung des Konzentrationslagers
Als am 11. April 1945 aus der Lautsprecheranlage die Stimme „Kameraden. Wir sind frei. Bewahrt Ruhe und Ordnung!“ ertönte, war der schreckliche Spuk vorbei. Bewaffnete Häftlinge übernehmen die Kontrolle des Lagers, und nehmen SS Leute fest, die zu fliehen versuchten. Zwei Tage später rücken die Amerikaner des „317th Infantry Regiment“ ein. Die Soldaten trauten ihren Augen nicht, als vor ihnen ein 15-jähriger schwarzer Junge stand. „Unter den Infanteristen waren viele Schwarze, die jedes Mal staunten und sofort Englisch auf mich einredeten…Bald nannte sie mich ’ihren old German boy’, begrüßten mich mit Handschlag und steckten mir Süßigkeiten zu„, erzählte Gert.
Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 1945 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 kehrte er nach Bad Langensalza zurück. Nach dem Krieg arbeitete er bei der amerikanischen Verwaltung. Die Amerikaner übertrugen ihm die Leitung des Lebensmitteldepots, denn als KZ-Häftling galt er als Antifaschist: „You are the boss! Du Chef here…Du von Buchenwald. Du kein Nazi. Wir nichts wissen anderes, besseres Person“, sagten die Amerikaner.
Nachdem die Russen die Amerikaner ablösen, wird er als Dolmetscher bei der sowjetischen Militäradministration tätig. Dann geht Schramm nach Frankreich und wurde Bergmann in Pas-de-Calais Danach lebt er fast zehn Jahre im Ruhrgebiet. Auf Drängen seiner Familie zieht er 1977 in die DDR zurück. Dort schlug er eine Funktionärskarriere aus und arbeitete statt dessen als Bergmann „in der Wismut“ und im Walzwerk. 1985 begann er mit dem Aufbau seines Taxiunternehmens. Er war jahrelang Ehrenrichter in Eberswalde und freiwilliger Feuerwehrmann sowie Präsident der Taxi-Unternehmergemeinschaft.
Gert Schramm, Bundesverdienstkreuzträger 2014
Bis zu seinem Tod war er Mitglied des Häftlingsbeirates beim Internationalen Komitee Buchenwald-Dora-Nebenlager. Nach der Wende engagierte er sich gegen rechte Gewalt, die durch ihre rassistischen Parolen und Mord an ihren Mitmenschen, das Land unsicher machte.
Als Vizepräsident des Buchenwald-Komitees engagierte er sich bis zuletzt aktiv für Aufklärung und gegen Rechtsextremismus. Noch im hohen Alter nahm er jedes Jahr an den Gedenkfeiern in Weimar und Buchenwald teil. 2015 nahm er an der 70. Gedenkfeier des KZ Buchenwald teil. Nachmittags fand auf dem ehemaligen Gelände eine bewegende Veranstaltung statt. Ehemalige Häftlinge wiederholten ihren Schwur, den Faschismus, Intoleranz und Rassismus zu bekämpfen.
Aufklärungsarbeit: Engagement gegen Diskriminierung
Gert Schramm, der eng mit Erlangen durch mehrere Besuche verbunden war, nahm auch als Ehrengast und Zeitzeuge an den „Black History Weeks 2015“ teil. Während der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ 2012 las er im Erlanger Ohm-Gymnasium aus seiner Autobiographie Wer hat Angst vorm schwarzen Mann. Gert Schramm zögerte nicht, lange Reisen zu unternehmen, um seine Versöhnungsbotschaft zu verkünden. Er warnte stets die Jugendlichen vor den Folgen von Rassenwahn und Diskriminierung und legte ihnen nahe, dass sie „niemals in die Fänge dieser Banditen von Rassisten-Nazis geraten und dass sie niemals für ihre Parolen, die nur von Hass und rassistischer Diskriminierung geprägt sind, empfänglich werden.„
Am 25. April 2014 wurde Schramm für seine Initiative gegen Rechtsextremismus im Rathaus von Eberswalde mit dem Bundesverdienstskreuz am Band geehrt. Der Landrat Bodo IIhrke überreichte ihm im Namen des Brandenburger Ministerpräsidenten die Ehrung mit den Worten: „Menschen wie Sie sind es, die uns davor bewahren, zu vergessen. Sie erinnern und mahnen uns. Sie machen uns deutlich, dass ein friedliches und demokratisches Miteinander durchaus keine Selbstverständlichkeit ist.“
Erlangen: „Black History Weeks“, 17. September 2015
Am 17. Septembre 2015 nahm er neben zwei anderen Zeitzeugen, Marie Nejar und Theodor Michael im Rahmen der „Black History Weeks“ an der Veranstaltung „Die Vergessenen der Geschichte – Afrodeutsche Zeitzeugen des Dritten Reiches“ in der Erlanger Stadtbibliothek teil. Diese beeindruckende Auftaktveranstaltung war das „Highlight“ unseres Programms.
Seine persönliche Geschichte bewegte an diesem Abend zutiefst die Teilnehmer und Teilnehmerinnen und als er von den Erinnerungen überwältigt wurde, begann Gert, zu weinen. Schluchzend sagte er “ Wir Überlebenden werden nicht eher ruhen, bis der letzte Nazi vor Gericht gestellt ist.“
Ich war ratlos und unterbrach die Veranstaltung. Das Publikum zeigte sein Verständnis mit Applaus.
Es war das erste und letzte Mal, dass drei überlebende Afro-Deutsche des Nationalsozialismus gemeinsam in der Öffentlichkeit auftraten. Dies war auch der letzte offizielle Auftritt von Gert Schramm in Erlangen.

NACHRUF – Abschied von Gert Schramm
In tiefer Trauer haben wir vom Tod eines guten Freundes, eines engagierten Menschen und des jüngsten afro-deutschen Häftlings des KZ Buchenwald erfahren.
Wir haben einen herausragenden Humanisten verloren, der sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzte und stets Diskriminierung, Rassismus und Intoleranz bekämpfte.
Ein Zeitzeuge ist für immer eingeschlafen. Wir sind alle sehr traurig, denn sein Tod macht uns betroffen.
Wir verbeugen uns respektvoll vor einer der letzten Figuren der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Jenseits unseres Landes wird der Name Gert Schramm auf der ganzen Welt strahlen. Er ist in die Geschichte eingetreten.
Denn trotz seiner schmerzlichen Erfahrungen in Buchenwald hat er immer wieder seine Versöhnungsbotschaft überall verkündet, damit das „nie wieder das“ sich nicht wiederholt und Realität wird.
Nach der oralen Tradition ist seine Seele zu seinen Vorfahren zurückgekehrt. Gert Schramm nimmt aber in unseren Herzen einen unvergeßlichen Platz ein, denn wir werden ihn mit seinen Ecken und Kanten in guter Erinnerung behalten.
Wir haben ihm somit ein unsichtbares Denkmal gesetzt, das jeder in sich trägt.
Ich bin dankbar, dass er in seiner Widmung mich als eine „Sinnesgenossin und gute Freundin “ bezeichnet hat
Im Namen unserer Stadt Erlangen und aller Menschen hierzulande, die ihn geliebt, geschätzt, geehrt und an seiner Veranstaltung teilgenommen haben, sage
ich Dir, Gert, DANKE, dass wir an einem Teil Deines Lebens teilhaben durften; DANKE, dass Du mit uns Deine Erinnerungen geteilt hast und uns Dein Vermächtnis in Buchform der jetzigen und kommenden Generation hinterläßt.
In tiefer Trauer um Gert Schramm bekunden wir seiner Familie, seinen Kindern und insbesondere seiner Enkelin, die ihn liebevoll betreut hat, unser herzlichstes Beileid und aufrichtige Anteilnahme.
Möge Gert Schramm in Frieden ruhen!
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