— ZUM KONTEXT DER DEUTSCHEN POLITIK DER FREUNDSCHAFT UND DES RAUMES —

Am 26. Juni 1884 hielt Otto von Bismarck eine Rede, die programmatisch die Grundaxiome der deutschen Kolonialpolitik skizzierte. Gegen das französische Kolonialmuster erhob er sich und schlug an seiner Stelle nicht die Kolonisation, sondern den „Reichsschutz“ vor. Die Frage, ob es die Pflicht des Deutschen Reiches war, mit Kolonialbestrebungen verbundene Unternehmungen zu unterstützen, stand im Mittelpunkt dieser historischen Rede. Bismarck konnte in diesem Zusammenhang ganz eindeutig Position beziehen:
„Unsere Absicht ist, nicht Provinzen zu gründen, sondern kaufmännische Unternehmungen, aber in der höchsten Entwicklung, auch solche, die sich eine Souveränität, eine schließlich dem Deutschen Reich lehnbar bleibende, unter seiner Protektion stehende kaufmännische Souveränität erwerben, zu stützen in ihrer freien Entwicklung sowohl gegen Bedrohung und Schädigung von Seiten anderer europäischer Mächte. Im übrigen hoffen wir, dass der Baum durch die Tätigkeit der Gärtner, die ihn pflanzen, auch im ganzen gedeihen wird, und wenn er es nicht tut, so ist die Pflanze eine verfehlte, und es trifft der Schade weniger das Reich, denn die Kosten sind nicht bedeutend, die sich in ihren Unternehmungen vergriffen haben. Das ist der Unterschied: bei dem System, welches ich das französische nannte, will die Staatsregierung jedes Mal beurteilen, ob das Unternehmen ein richtiges ist und ein Gedeihen in Aussicht steht. Bei diesem System überlassen wir es dem Handel, dem Privatmann die Wahl, und wenn wir sehen, dass der Baum Wurzeln schlägt, anwächst und gedeiht und den Schutz des Reiches anruft, so stehen wir ihm bei, und ich sehe auch nicht ein, wie wir ihm das rechtmäßig versagen können.“
Die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches konnte also kaufmännischen Unternehmungen mit Kolonialbestrebungen beistehen, sollten sie in Schwierigkeiten geraten. Aus dieser kolonialen Philosophie erwuchsen „Schutzverträge“, die Deutschlands „Platz an der Sonne“ sichern sollten. Wenn bewiesen werden kann, dass es nicht an früher Propaganda und an frühen Kolonialexperimenten vor 1884 fehlte, die verstreut, getarnt und dezentriert – mal durch einzelne Gruppen finanziert, mal unter Brandenburg-Preußen in einem Deutschland der Kleinstaaterei – vor sich ging, so fällt auf, dass Afrika immer mehr ins Visier deutscher Kolonialideologien geriet.
Karl Freiherr von Stengel verweist darauf, dass Deutschland früher eine aktive Kolonialpolitik in Afrika betrieben hatte. Dabei bezieht er sich auf die Kolonialbestrebungen des Großen Kurfürsten von Brandenburg, dem es gelang, trotz des Mangels an Unterstützung von Hansestädten und Untertanen und dank der Unterstützung Preußens im Jahre 1680 zwei Schiffe voller Holländer — die dann später von deren eigenem Staat zurückberufen werden sollten — nach Afrika zu entsenden und einen Vertrag mit afrikanischen Königen an der Goldküste abzuschließen. In diesem Vertrag verpflichteten sich diese Könige, mit niemandem außer den Untertanen des Kurfürsten Handel zu treiben, und traten dann einen Platz zur Erbauung einer Festung ab.
Dass Deutschland lange vor 1884 zu keiner großen Kolonialmacht wurde, erklärt eine Reihe von Faktoren. Aufgrund der Zersplitterung Deutschlands und der Interessenvielfalt konkurrierender Herzogtümer und Kurfürstentümer war ein einheitlicher Zollverein kaum realisierbar. Selbst Brandenburg und Preußen, die mächtigen Kurfürstentümer, hatten keinen Zugang zum Meer, der ihnen eine Teilnahme am Welthandel hätte ermöglichen können. Erst die Realisierung des Zollvereins erleichterte den Zugang zu den Hansestädten (Hamburg, Bremen und Lübeck) und brachte einen beträchtlichen Aufschwung mit sich.
Der Mangel an einer Flotte beschränkte allerdings den wirtschaftlichen Einfluss, die Erweiterung, die Ausdehnung und den Erwerb von Kolonien, die Erschließung von Auswanderungsgebieten für die überschüssige Bevölkerung sowie die Vergrößerung desselben Einflusses in nationaler, europäischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Ein Wettbewerb mit anderen Kolonialmächten (Frankreich, England, Spanien oder Portugal) war vor der Realisierung des Zollvereins und später der deutschen Einheit kaum vorstellbar. Auch wäre eine deutsche Politik nicht denkbar gewesen, wenn die Verhandlungskunst Otto von Bismarcks nicht im Spiel gewesen und der Erwerb von Kolonien nicht in den politischen Diskurs eingegangen wäre.
Wenn man von der deutschen Kolonisation in Afrika redet, so könnte man die Rolle Otto von Bismarcks nicht außer Acht lassen. Ebenfalls ist die Kongo-Konferenz nicht zu übersehen. Diese Konferenz gab europäischen Nationen im Jahre 1884 das Signal, Afrika zu erobern. Wegen des Streites um die Angra Pequeña-Angelegenheit wurde der deutsche Botschafter damit beauftragt, Verhandlungen mit dem Staatssekretär des Foreign Office zu unternehmen. Am 7. Juni 1884 war die Unterredung von Graf Münster mit dem englischen Außerminister nicht erfolgreich. Folglich führte Herbert von Bismarck am 17. und 22. Juni desselben Jahres neue Gespräche mit Lord Grandville im London Foreign Office.

Das Ziel dieser Verhandlungen war die Beilegung der deutsch-englischen Interessenskonflikte. Die Verhandlungen gaben den Weg frei für eine Eroberung des südwestafrikanischen Raumes. Wenn es klar ist, dass Bismarck zwar Deutschlands „Platz an der Sonne“ sichern wollte, ohne die junge Nation, deren militärische Stärke nicht auf der gleichen Augenhöhe mit rivalisierenden Nationen stand, zu beschädigen, so stand er zu Beginn der Frage der reichsdeutschen Interessen in den erworbenen Räumen auch in Südwestafrika eher skeptisch gegenüber. Dazu war das Deutsche Reich im Kontext der französischen Besitznahme nicht in der Lage, einen eindeutigen Etat sicherzustellen. Ein reichsdeutsches Kolonialabenteuer verlangte eine gewisse Politik der Freundschaft und des Raumes, die seit 1884 und bis heute die deutschen Beziehungen zu diesem Teil Afrikas bestimmt.
[Fortsetzung folgt – kommt noch]
Urheber: Dr. Pierre Kodjio Nenguie — Montreal, Kanada
Schreibe einen Kommentar